Demenz aus der Zahnfleischtasche

Studien zeigen, dass Parodontitis-Bakterien es bis ins Hirn schaffen können. Dabei ist die Erkrankung mittlerweile gut behandelbar.
VON JÖRG ZITTLAU

Das Zahnfleisch blutet und bildet sichtbare Taschen. Die Zahnhälse liegen frei. Und dann strömen noch unappetitliche Gerüche aus dem Mund. Wer Parodontitis hat, muss sich Sorgen machen. Und zwar nicht nur um sein Gebiss. Sondern auch um sein Gehirn.

Es ist kurz, plump, unbeweglich und mag keinen Sauerstoff: Im bunten Reich der Bakterien wirkt Porphyromonas gingivalis nicht gerade wie ein eleganter Superstar. Doch zusammen mit anderen Keimen verursacht es die berüchtigte Erkrankung des Zahnhalteapparats, die marginale Parodontitis. Und von dort schafft es dieser Keim offenbar, wie jetzt ein Team um den US-amerikanischen Alzheimer-Forscher Stephen Dominy herausgefunden hat, auch ins Gehirn, wo er dann ebenfalls gravierende Spuren hinterlassen kann.

Ausgangspunkt der Studie war, dass man in den Gehirnen verstorbener Alzheimer-Patienten deutlich mehr genetische Spuren von P. gingivalis gefunden hatte als in den Gehirnen einer gesunden Kontrollgruppe. Außerdem hatte man bei fast jedem Demenzkranken so genannte Gingipaine entdeckt, die der Keim als Enzyme zum Aufspalten von Eiweißen bildet. „Dabei zeigte sich“, so Dominy, „dass die Gehirne umso krankhafter verändert waren, je stärker sie mit den bakteriellen Enzymen belastet waren“. Was allein schon den Verdacht erhärtete, dass es einen Zusammenhang von P.gingivalis und Alzheimer geben musste.

Als man daraufhin infizierten Mäuse mit dem Parodontitis-Erreger infizierte, zeigten sich in deren Gehirnen schon bald folgenschwere Veränderungen. So wirkten einerseits seine Gingipaine direkt giftig auf die Neuronen, andererseits antwortete das Immunsystem der Mäuse auf die Infektion auch dergestalt, dass es verstärkt antibiotisch wirksame Amyloide produzierte – also genau jene Problem-Eiweiße, die man typischerweise im Gehirn von Alzheimer-Patienten findet. Was im Endeffekt heißt: Die Parodontose-Bakterie stimuliert ihren Wirt zur Produktion einer Substanz, die nicht nur den Infekt, sondern auch sein eigenes Gehirn in die Knie zwingt. Ein echter Pyrrhus-Sieg also.

Führt also Parodontitis in die Demenz? Robert Moir, Neuro-Wissenschaftler vom Massachusetts Hospital in Boston, bleibt skeptisch: „Schon möglich, dass P.gingivalis zur Alzheimer-Erkrankung beiträgt; doch es dürfte nicht die Ursache dafür sein.“ So könne beispielsweise der Keim bei Alzheimer-Patienten leichter ins Gehirn gelangen, weil deren Mundhygiene und auch deren Blut-Hirn-Schranke schlechter funktioniere als bei Gesunden – und dann wäre die bakterielle Infektion im Gehirn eher eine Folge als eine Ursache der Erkrankung.

Wolf-Dieter Grimm, Zahnarzt und emeritierter Parodontologie-Professor der Universität Witten/Herdecke, kritisiert die einseitige Ausrichtung auf P.gingivalis: „Man geht mittlerweile davon aus, dass an der Parodontitis 600 bis 700 Bakterienarten beteiligt sind.“ P.gingivalis sei zwar ein so genannter Leit-Keim, der relativ sicher die Erkrankung anzeigt. „Doch mit einem Anteil von maximal fünf Prozent ist es im bakteriellen Biofilm letzten Endes das Mitglied einer großen Community, von der auch andere Mitglieder ein Krankheitspotential haben, das über die Parodontitis hinausgeht“, betont Grimm.

Nichtsdestoweniger besitzt P.gingivalis schon einige Eigenschaften, die es in besonderem Maße dazu prädestinieren. Dazu gehört, dass es sich sehr effektiv vor dem Immunsystem des Menschen verstecken kann. Mikrobiologen sprechen in diesem Zusammenhang von einem Tarnkappenmechanismus, der es dem Erreger gestattet, unentdeckt und dadurch weitgehend ungestört durch den Körper seines Wirtes umherzustreifen.

Hinzu kommt, dass es weitflächig aktiv ist. Würde die Parodontitis nur einen kleinen Bereich betreffen, würde von dort auch kein sonderlicher „Entzündungsdruck“ ausgehen. „Doch die Oberfläche des Zahnhalteapparats entspricht etwa zwei Handflächen“, betont Grimm. „Da steckt viel Entzündungspotential drin, das sich auf andere Bereiche des Körpers niederschlagen kann“. So sei schon länger bekannt, dass sich P.gingivalis auf dem Blutweg auch auf den Herzklappen festsetzen kann. Und bei Diabetikern konnte man sogar schon therapeutische Zusammenhänge beobachten: Man konnte ihren Krankheitsverlauf günstig beeinflussen, indem man ihre Parodontitis behandelte.

Gründe genug also, diese Erkrankung ernst zu nehmen. „Doch sie wird noch massiv unterschätzt“, betont Grimm. Oder ausgeblendet, weil man die angeblich schmerzhaften Operationen am Zahnhalteapparat fürchtet. Dabei gibt es mittlerweile auch minimal-invasive Behandlungsmethoden. Bei den Pulverstrahlsystemen werden die Zahnfleischtaschen mechanisch gereinigt, wie man das von den Sandstrahlgebläsen an Gebäuden kennt. Nur dass eben das Pulver biologisch abbaubar und extrem fein ist, so dass am Gewebe und an der Zahnwurzel kein Schaden entsteht. Die photodynamische Therapie verfährt antibakteriell, indem sie per Laser eine zuvor eingebrachte Substanz, einen sogenannten „Sensitizer“ in den Zahnfleischtaschen aktiviert. „Dabei wird Sauerstoff freigesetzt – und das mögen anaerobe Keime wie P.gingivalis überhaupt nicht“, erläutert Grimm. Das Verfahren wird allerdings von den gesetzlichen Krankenkassen noch nicht bezahlt, die Pulverstrahlsysteme hingegen schon.

Am besten wäre freilich, wenn es erst gar nicht zu einer Parodontitis kommt. Mit einer gründlichen Gebisshygiene, bei der auch die Zahnzwischenräume gereinigt werden, kann man präventiv schon einiges erreichen, doch gegen eine der wichtigsten Krankheitsursachen kann auch sie nichts ausrichten: das Alter. „In einer Gesellschaft, die immer älter wird, muss man eben damit leben, dass es auch immer mehr Parodontitisfälle gibt“, so Wolf-Dieter Grimm.

INFO
Betroffen ist die Hälfte der über 35-Jährigen

Definition Parodontitis und Parodontose sind das Gleiche, beim letzteren Begriff handelt es sich lediglich um eine umgangssprachliche Bezeichnung der Erkrankung. Sie ist in der Regel bakteriell verursacht und betrifft den kompletten Zahnhalteapparat. Dazu gehören neben dem Zahnfleisch auch die Haut und der Zement der Zahnwurzel sowie die Alveole. Dies ist die Vertiefung im Kieferknochen, in dem der Zahn steckt.

Ursachen Experten schätzen, dass fast die Hälfte der Bevölkerung ab 35 Jahren von Parodontitis betroffen ist. Hauptrisikofaktoren sind Zahnbeläge und Zahnstein. Aber auch Rauchen sowie Piercings an Lippe, Lippenbändchen und Zunge erhöhen das Risiko. Schwangere Frauen sind ebenfalls in besonderem Maße gefährdet, weil ihr Zahnfleisch – hormonell bedingt – anschwillt und dadurch Bakterien leichter in die Tiefe des Zahnhalteapparats vordringen können.